Der Sieger-Run von Amaury Pierron beim Downhill World Cup in Lourdes war nah dran an der Perfektion. Die Leistungen beim Auftakt des Downhill World Cups 2022 haben gezeigt, dass die Disziplin endgültig ein neues Niveau erreicht hat. Bleibt die Frage, ob der Discovery-Übergang in den Mainstream gelingen wird …
Es war ein traumhafter Auftakt in die Downhill World Cup-Saison 2022: Perfektes Wetter, eine unfassbare Stimmung am Streckenrand, faire Entscheidungen und Sieger-Läufe auf einem unfassbaren Niveau. Die Behauptung, dass das zurückliegende Finale an Spannung nicht zu überbieten war oder das fahrerische Niveau immer weiter steigt, wird auch regelmäßig in unseren Rennberichten geäußert. Die Breite an der Spitze wird immer dichter – klar. Aber dieses Mal stimmt das wirklich!
Legendäre Downhill-Runs? Gabs doch schon immer!
Zugegeben, grandiose Rennläufe, an die man sich auch mehrere Monate danach noch gerne zurückerinnert, gab es immer wieder. Man denke da beispielsweise an Aaron Gwins Regen-Sieg in Mont-Sainte-Anne, der 2017 das Vorurteil, der Kalifornier wäre ausschließlich ein Schönwetter-Fahrer, endgültig aufgeräumt hat. Oder Amaury Pierrons Les Gets-Run 2019, der die perfekte Definition von Geschwindigkeitsüberschreitung ist. Blickt man weiter in die Vergangenheit des Downhill-Sports zurück, dann kommen einem natürlich Sam Hills legendäre WM-Fahrt in Val di Sole oder Danny Harts Champery-Run („LOOK AT THE TIME!“) in den Sinn. Doch der Downhill-Rennsport im Jahr 2022 hat nicht mehr allzu viel mit den Rennen von vor 10 Jahren zu tun. Selbst im Vergleich zu den Entscheidungen von vor vier oder fünf Jahren wirkte die Entscheidung in Lourdes wie eine Next-Generation-Version von Downhill-Rennen mit einem gehörigen Schuss Energy Drink.
Das Level der Fahrerinnen und Fahrer ist in den vergangenen Jahren rasant angestiegen. Downhill Bikes werden immer schneller, Fahrwerke immer besser. Beim letzten Rennen in Lourdes hat das Santa Cruz Syndicate als erstes Team einen 29er aus dem Hut gezaubert und damit die Downhill-Welt geschockt. Rückblickend war das dies nicht das Ende der Entwicklungs-Fahnenstange, sondern der Anfang. High Pivot-Bikes sind genauso gekommen um zu bleiben wie Mullet-Setups. Das aktuelle Specialized Demo, das in Lourdes doppelt auf dem Podium vertreten war, mag zwar weitaus weniger futuristisch aussehen und schwerer sein als das asymmetrische Carbon-Demo aus Gwin-Zeiten, doch es ist mit Sicherheit das deutlich schnellere und bessere Race-Bike.
Downhill 2022 ≠ Downhill 2017
Doch zurück zur Entscheidung in Lourdes – und vor allem zum unfassbaren Lauf von Amaury Pierron. Die Strecke in Lourdes wurde im Vergleich zu 2017 an einigen Stellen etwas enger gesteckt und kurz vorm Ziel durch kräftezehrende Whoops ergänzt. Ein Vergleich zwischen dem Rennen 2017 und der 2022er-Ausgabe ist schwierig, doch geht man von einer (nahezu) identischen Streckenlänge aus, dann war Amaury Pierron während seines 2:47.711 Minuten langen Husarenritts mit einer absurd hohen Durchschnittsgeschwindigkeit von 42,93 km/h unterwegs.
Selbst im Vergleich zu den Entscheidungen von vor vier oder fünf Jahren wirkte die Entscheidung in Lourdes wie eine Next-Generation-Version von Downhill-Rennen mit einem gehörigen Schuss Energy Drink.
Noch beeindruckender wird die Leistung, wenn man den massiven Fehler berücksichtigt, den der Commencal-Fahrer in einer losen Wald-Sektion kurz vor einem langgezogenen Off Camber-Abschnitt gemacht hat. Erst im GoPro-Video wurde klar, wie sehr ihm das Vorderrad weggerutscht ist – und dass er unmittelbar danach noch einen weiteren groben Schnitzer in seinen Lauf eingebaut hat. Der direkte Vergleich zu Loïc Bruni, an diesem Sonntag nur Dritter, zeigt, dass Amaury Pierron auf einer rund 10 Sekunden langen Sektion hier fast 2,3 Sekunden eingebüßt hat. Ohne Fehler ist in Lourdes niemand ins Ziel gekommen, aber allein diese Tatsache zeigt, wie sehr Amaury Pierron in Lourdes in einer eigenen Liga gefahren ist.
Dabei war am Abend vor dem Rennen gar nicht klar, ob er beim Finale überhaupt an den Start gehen kann. In seinem Quali-Lauf ist Pierron in der Kurve vor dem finalen (und wirklich großen) Drop in den Zielbereich ausgeklickt, nicht mehr ins Pedal gekommen und bei der Landung mit dem Fuß in den Boden eingeschlagen. Gerüchten zufolge soll die Stimmung in den Commencal-Pits am Abend des Quali-Tages eher bescheiden gewesen sein, am Tag nach dem Finale ist der spätere Sieger direkt ins Krankenhaus gefahren. Nach zwei Jahren voller Rückschläge und Verletzungen hat sich Amaury Pierron auf sehr beeindruckende Art und Weise an der Weltspitze zurückgemeldet.
Jugend forsch
Auch die Entscheidungen der anderen Kategorien in Lourdes waren an Spannung kaum zu überbieten. Bei den Frauen konnte Camille Balanche im dritten Jahr in Folge den Sieg beim ersten großen Rennen des Jahres feiern – bei all dem Hype um Vali Höll und Nina Hoffmann vergisst man schnell mal, dass die Schweizerin ebenfalls noch gar nicht so lange überhaupt Downhill fährt. Mit Myriam Nicole, einer bis dahin fitteren Marine Cabirou, Vali Höll, Tahnée Seagrave, Camille Balanche und Nina Hoffmann, die auf ihren soliden siebten Platz definitiv aufbauen kann, gibt es gleich sechs Fahrerinnen, die in Fort William realistische Chancen auf den Sieg haben. So ausgeglichen und gleichzeitig gut war das weibliche Feld im World Cup noch nie.
Wohin wird die Reise führen? Wird Downhill olympisch? Oder stellt Red Bull zukünftig gar eine eigene Rennserie als Konkurrenz-Produkt zur durchbürokratisierten UCI-Veranstaltung auf die Beine?
Diese Entwicklung wird sich fortsetzen, denn auch bei den Juniorinnen geht es sehr umkämpft zur Sache. Mittlerweile gibt es mehrere Nachwuchs-Fahrerinnen, die von großen Teams den nötigen Support bekommen – sei es Phoebe Gaele, die an der Seite von Tahnée Seagrave wertvolle Erfahrungen sammelt, oder Izabela Yankova, die im Gen S-Team von Specialized nun in die Weltspitze geführt werden soll. Der Star der Juniorinnen war in Lourdes jedoch Gracey Hemstreet. Die Norco Factory-Fahrerin wäre mit ihrer Zeit bei den Frauen fast auf dem Podium gelandet – und das, obwohl die Juniorinnen vermutlich schwierigere Bedingungen hatten.
Dass Jackson Goldstone mal wieder bei den Junioren gewonnen hat, dürfte inzwischen keine Überraschung mehr sein. Dass er aber der zweitschnellste Syndicate-Fahrer des Tages war, ist mehr als beachtlich. Ebenfalls sehr bemerkenswert ist die Leistung von Henri Kiefer, der bei seinem ersten World Cup überhaupt direkt auf Platz 5 gerast ist. Mit seiner Zeit hätte er sich nicht nur fürs Finale der Männer qualifiziert, sondern wäre dort in die Top 40 gefahren. Zur Einordnung: Als Sam Hill seinen legendären Val di Sole-Run hingelegt hat, war Henri gerade einmal 3 Jahre jung.
Eine goldene Zukunft – oder der Tunnel am Ende des Lichts?
Der Downhill-Sport steht vor einer goldenen Zukunft und der Auftakt in Lourdes macht berechtigte Hoffnung, dass die Disziplin nach zwei Covid-geplagten Jahren noch stärker, noch packender und noch massenkompatibler zurückkommt. Vor Ort haben 40.000 begeisterte Fans das Rennen verfolgt, im Internet dürften es noch deutlich mehr gewesen sein – darunter nicht nur absolute Downhill-Freaks, die ohnehin schon über jedes kleine Detail Bescheid wissen.
Umso spannender bleibt zu beobachten, wie der Übergang des Downhills weg von Red Bull hin zu Discovery gelingen wird. Dass bislang noch gar nichts darüber bekannt ist, was sich überhaupt ändern soll und wird, löst bei einigen Beteiligten durchaus Kopfschmerzen aus. Selbst einen Kalender für 2023 gibt es bis dato noch nicht. Dafür haben in Lourdes Gerüchte die Runde gemacht, dass die Zahl der Rennen deutlich erhöht werden soll – ein Punkt, über den in der Vergangenheit regelmäßig ein Dissens zwischen der UCI und dem Produktionsteam von Red Bull bestand. Wohin wird die Reise führen? Wird Downhill olympisch? Die Voraussetzungen, das Zuschauer-Interesse und die Professionalität sprechen dafür, andere Faktoren hingegen lassen das unrealistisch erscheinen. Oder stellt Red Bull zukünftig gar eine eigene Rennserie als Konkurrenz-Produkt zur durchbürokratisierten UCI-Veranstaltung auf die Beine?
Man könnte meinen, dass der Downhill-Sport nach einer schwierigen Phase und einem rasanten Aufstieg dort angekommen ist, wo er schonmal in den 90ern war: An der Schwelle zum Mainstream, zu sehen im Fernsehen und mit Fahrerinnen und Fahrern, die lukrative Verträge mit Unternehmen außerhalb der Mountainbike-Branche abgeschlossen haben. Die Jahre damals sind natürlich nicht mit der heutigen Zeit vergleichbar, und trotzdem wirkt es so, als ob der Downhill-Rennsport auf World Cup-Niveau kurz davor ist, den nächsten, sehr großen Schritt zu machen. Wie genau dieser aussehen wird, ist aktuell noch schwer zu sagen. Es bleibt aber zu hoffen, dass sich fürs Erste gar nicht mal so viel verändert – denn wie soll man einen Run wie den von Amaury Pierron denn überhaupt noch toppen?
Wie beurteilst Du die Entwicklung im Downhill World Cup? Wo geht die Reise hin?