Quantcast
Channel: magazin_feature - MTB-News.de
Viewing all articles
Browse latest Browse all 5195

Bikepacking Trans Germany: Von Basel bis nach Rügen in 6,5 Tagen

$
0
0
Bikepacking Trans Germany 2016

Während der kalten und dunklen Jahreszeit dürfte bei den meisten Bikerinnen und Bikern das Fernweh sowie der Wunsch nach einem Abenteuer ähnlich stark wachsen wie die Sonnenstunden schrumpfen. Folglich werden genau in dieser Zeit die Pläne für die kommende Saison geschmiedet und im Kopfkino laufen Filme von Bikeabenteuern in den entlegensten Gebieten der Erde. Dass man für ein solches Abenteuer jedoch nicht zwingend in die Ferne schweifen muss, zeigt die auch hierzulande stetig steigende Anzahl von Self-Support-Bikepackingevents. Mit der Bikepacking Trans Germany, die in diesem Jahr ihre Premiere feierte, möchten wir euch einen dieser Events vorstellen und Lust darauf machen, die heimischen Gefilde auf dem Trail less pedaled (neu) zu entdecken.

Vorwort von Achim Walther – Initiator der Bikepacking Trans Germany

Wer einmal die Great Divide MTB-Route gefahren ist – sei es als Rennen oder als Radreise – der kommt mit der Sehnsucht nach Hause, eine solche Route auch in Europa fahren zu können. So auch bei Thomas und bei mir.

Unabhängig voneinander suchten wir nach einer Great Divide durch Deutschland und darüber hinaus. Es dauerte zwei Jahre und brauchte einige Anläufe, Fehlversuche und Sackgassen, bis wir eine abwechslungsreiche und vielversprechende Route von Basel nach Rügen entworfen hatten. Um diese in der Szene bekannt zu machen, sollte es ein Self-Support-Rennen nach dem Vorbild der Tour Divide geben. An einem Sonntag im Juli 2016 war es schließlich so weit – 90 % der Strecke war uns durch das Scouting bekannt, die restlichen 10 % sorgten für ein wenig Nervenkitzel. 15 Teilnehmer trafen sich am Vorabend in Basel mit großer Vorfreude auf ein Abenteuer in Mitteleuropa. Olaf Haensch war einer von ihnen, und seine Geschichte – unmittelbar nach seinem Finish notiert – ist hier zu lesen.

Den Zweiten beißen die Hunde

Von Basel in achteinhalb Tagen über Schwäbische Alb, Fichtel- und Erzgebirge bis an die Ostsee: Was 1600 Kilometer Selbstversorgerrennen quer durch Deutschland außer einem Loch in der Wade noch alles mit sich brachten.

Thomas und Olaf auf dem Weg zum Start
# Thomas und Olaf auf dem Weg zum Start - Foto: Falk Diefenbach

Im Frühjahr 2016 wurde ich unter anderem im Forum von MTB-News.de auf das Selbstversorger-Rennen “Bikepacking Trans Germany” aufmerksam, welches im Sommer nach einer etwa zweijährigen Planung auf einer gänzlich neuen Route von Basel in der Schweiz nach Rügen an der Ostsee führen sollte. Diese orientiert sich zu einem nicht unerheblichen Teil – gemäß ihres US-Vorbilds – an der Europäischen Hauptwasserscheide und überquert nach einführenden Kilometern entlang des Rheins zunächst einige Ausläufer des Schwarzwalds, anschließend längs die Schwäbische Alb, zieht sich weiter in nordwestlicher Richtung durch Franken, berührt das Vogtland und folgt dem Erzgebirgskamm bis zur Elbe, bevor sie sich in der Oberlausitz nach Norden wendet, Neiße und Spree folgt, nördlich Berlins die zauberhafte Mecklenburgische Seenplatte durchquert und schließlich die Leuchttürme am Kap Arkona zum Ziel hat: 1650 Kilometer gewürzt mit rund 20000 Höhenmetern, vielen Trailabschnitten und schnellen Schotterpisten, stundenlanger Abgeschiedenheit, viel Natur, grandiosen Weitblicken und der Aussicht, Deutschland ganz neu kennenzulernen. Sechs fleißige Scouts hatten die Route zuvor erkundet und noch bis zuletzt Feintuning betrieben.

Die Homepage des Rennens, btg.voidpointer.de, gibt Aufschluss über die Regeln. Die beiden Initiatoren Achim Walther und Thomas Borst haben diese weitgehend von den großen Vorbildern “Tour Divide” und “Grenzsteintrophy” übernommen. Einzige Ergänzung: Am Start in Basel war ein auf der Tour mitzuführender Flachmann mit Whisky oder einem Äquivalent vorzuweisen. Obwohl ich selbst kaum Alkohol trinke, fand ich die Bedingung auf Anhieb sympathisch, unterstrich sie doch, dass bei allem sportlichen Ehrgeiz der Spaß nicht zu kurz kommen sollte. Als passende Antwort präsentierte ich am Morgen des 3. Juli 2016 einen “Ultraleicht“-Flachmann in Schlüsselanhänger-Größe, was für einige Lacher im Starterfeld sorgte. Neben einigen geläufigen Namen der überschaubaren deutschen Bikepacking-Szene sowie einem Franzosen, einem US-Amerikaner und einem Niederländer hatten sich quasi in letzter Minute auch Marion als einzige weibliche Fahrerin und der Schweizer Reto Koller angemeldet. Letzterer zeigte uns bald, was “Kette rechts!” wirklich bedeutet.

Gruppenbild am Startpunkt in Basel
# Gruppenbild am Startpunkt in Basel

Das Abenteuer beginnt

Um 8 Uhr morgens fällt der Startschuss und fast alle glauben an ein gemütliches Einrollen entlang des Rheinufers. Doch schon nach wenigen Minuten werden wir eines Besseren belehrt: Direkt am Wasser verlangen enge Trails volle Konzentration. Ein Fahrfehler, und man läge sehr wahrscheinlich im Fluss – nicht ohne bei der Strömung (einem Fahrer ist das dann auch tatsächlich passiert!). Gelegentlich muss das Rad an alten Bunkern vorbei und über Treppen getragen und geschoben werden. Himbeerranken verewigen sich mit ihren Dornen im Arm. Schon nach etwa 20 Kilometern dann ein platter Vorderreifen dank eines nicht ganz zugedrehten Ventils. Erstaunlicherweise behalte ich die Führung, obwohl ich Reto und Mirko direkt hinter mir wähne. Aber außer Adalbert am nächsten Tag sollte mir bis zum Ziel kein anderer Fahrer mehr begegnen.

Enge Trails am Schweizer Rheinufer
# Enge Trails am Schweizer Rheinufer

Nach Überquerung des Rheins und somit der Grenze zu Deutschland entfernt sich die Route bei Waldshut vom Vater aller deutschen Flüsse und folgt nun einige Zeit der Wutach. Plötzlich ein Abzweig, den ich um ein Haar verpasse: Als der Track in ein enges Seitental schwenkt und sich der Pfad immer mehr in einem Bachbett verliert, als dieses auf einem Baum balancierend überquert werden muss und Wasserfälle, Geröll und weitere umgestürzte Bäume ein Vorankommen immer mehr erschweren, zweifle ich erstmals am Track und am GPS-Empfang. Auf Canyoning bin ich nun wirklich nicht vorbereitet! Spuren Vorausfahrender gibt es nicht – der Preis meiner Führungsposition. Aber nach einigen hundert Metern bin ich immer noch exakt auf dem Track. Als mich die Schlucht nach der Kletterei weiter oben wieder ausspuckt, bin ich nicht nur erneut in der Schweiz, sondern trotz der Mühen sehr dankbar für diesen abenteuerlichen, aber ungemein reizvollen Abschnitt. Nun geht es für einige Zeit steil bergauf und es rächt sich, dass ich unterwegs bisher keine Kalorien nachgeschoben habe. Oben dann die Rettung: Freundliche Damen verkaufen mir selbstgebackenen Kuchen und Getränke, denn zufällig bin ich auf ein Imkertreffen geraten. Ausgehungert nehme ich die hier überall herumschwirrenden Bienen kaum zur Kenntnis. Derart gestärkt fahre ich noch ein ganzes Stück in die Alb hinein. Am Abend bin ich wirklich platt und erreiche gerade noch eine Hütte bei Deilingen, wo ich die Nacht verbringe. Acht Stunden Tiefschlaf später bin ich nicht überrascht, beim Livetracking auf Trackleaders.com Reto, Mirko und Adalbert vor mir zu sehen. Wer es wirklich ernst mit einem solchen Rennen meint, der spart an der Nachtruhe.

Durch die Klamm der Teufelsküche
# Durch die Klamm der Teufelsküche

Über die Schwäbische Alb nach Franken

Die Landschaft in der Schwäbischen Alb ist fantastisch. Auf feinen Trails geht es am nächsten Morgen zum ersten Checkpoint, dem Zeller Horn. Von dort bietet sich eine grandiose Fernsicht und gleich gegenüber reckt die stolze Burg Hohenzollern ihre Türme in den Himmel. Wie gern hätte ich hier oben übernachtet, aber dafür reichte es gestern einfach nicht mehr. Außerdem hatte Mirko, der Scout dieses Abschnitts, am Start noch davor gewarnt, sich bei Nacht auf die Trails an der Kante des steil abfallenden Albtraufs zu begeben. Noch bis zum Vormittag des dritten Tages mühe ich mich über die Berge der Alb, dann werden die Anstiege allmählich sanfter. Einige Kilometer vor Aalen geht es durch ein Forstgebiet, das mir wie eine gigantische Holzfabrik erscheint. Ein lärmender Hubschrauber hetzt über den Baumwipfeln hin und her. Die „Waldautobahnen“ werden ihrem Namen hier wirklich gerecht, dank schwerer Sattelschlepper wurden die Wege zu Pisten mit einer betonharten Oberfläche. Auch jetzt kommen LKW ständig aus allen Richtungen und hüllen mich in Staub und ihre Abgase. Das nervt. Eine dieser Pisten ist gesperrt – es drohe Lebensgefahr. Ich ignoriere die Warnung, tauche unter dem Flatterband hindurch und lasse es laufen. Weder Forstarbeiter noch Forstarbeiten sind auszumachen. Auch in den nächsten Tagen werde ich das mit den Absperrungen so handhaben. Vorsichtig, versteht sich.

Checkpoint 1 - Zeller Horn
# Checkpoint 1 - Zeller Horn

In Aalen versorge ich mich mit einer großen Portion Nudeln und verlasse das Gebirge vorerst. Endlich rollt es wieder richtig und mein starres Salsa Fargo kann zeigen, wofür es konstruiert wurde – hier braucht es keine Federung. An Rothenburg ob der Tauber geht es knapp vorbei, dann folgen bei Marktbergel einige superschnelle Schotterpisten. Das Bike fühlt sich darauf sauwohl und die rund 40 km/h machen Spaß – und zwar derart, dass ich einmal den Arm nach oben reiße und einen lauten Freudenschrei von mir gebe. Leider ist niemand dabei, um den Moment zu teilen – Racerschicksal. 
Seit ich Adalbert gestern überholt habe, liege ich auf Rang zwei. Er folgt nun mit etwa 30 Kilometern Abstand, während Reto inzwischen unglaubliche 100 Kilometer vor mir fährt. Außer, dass die Abstände Tag für Tag zunehmen, wird sich daran nichts mehr ändern. Dennoch: Eine ernsthafte Attacke meines Verfolgers würde genügen, um mich nachts einzuholen. Bleibt zu hoffen, dass ihn die Route zu ähnlichen Schlafpausen nötigt wie mich. Inzwischen ist es sechs Uhr abends. Ein Ort wird demnächst nicht mehr kommen, also fahre ich ins zwei Kilometer vom Track entfernte Obernzenn, wo die überraschte Chefin im Dorfgasthof extra für mich Spaghetti kocht. Der Abend auf dem Rad ist herrlich, so dass ich noch bis halb Zwölf und bis Erlangen weiterfahre. Nur einige Kilometer über nicht ganz einfache Trails sind zum Schluss nicht so lustig, da mein Licht leider nur noch abgeblendet funktioniert. Und wie würden sich meine Arme jetzt über eine Federgabel freuen! In der Nacht, die ich nahe der Stadt in einer Schutzhütte verbringe, habe ich dank der vielen Mücken den schlechtesten Schlaf der gesamten Tour.

Langer Anstieg hinter Bad Urach
# Langer Anstieg hinter Bad Urach

Red Bull bezwingt Hügel

Am nächsten Morgen stehe ich bis elf Uhr ziemlich neben mir und komme erst nach einem Energy Drink einigermaßen in Fahrt. Limonaden und ähnliches sind normalerweise überhaupt nicht mein Ding, doch jetzt dürstet es mich täglich nach Cola und anderen Zucker-/Koffein-Bomben. Bayreuth ist nicht mehr weit, und dahinter wird es nicht mehr lange bis zum von der Grenzsteintrophy bekannten „Dreiländereck“ dauern, unserem Checkpoint 2. Zuvor passiere ich noch Bad Berneck, ein weiteres Idyll entlang unserer „Trans Germany“. Heraus aus dem touristischen Fachwerkstädtchen steigt die Route in einem reizvollen Tal allmählich wieder an. Es geht ins Fichtelgebirge, später dann ins Vogtland.

Sonnenaufgang an der Burgruine Neideck
# Sonnenaufgang an der Burgruine Neideck

Die Einsamkeit ist wieder unheimlich schön, aber zieht mich an diesem Abend auch ziemlich runter. Kein Wunder, es ist der kritische Tag 4. Zum ersten Mal auf dieser Tour befinde ich mich nun in Tschechien, obgleich nur für eine halbe Stunde. In Adorf dann wollen die Jungs in der Dönerbude gar nicht glauben, dass ich tatsächlich von Basel mit dem Fahrrad gekommen bin! Es wird langsam dunkel, noch ein steiler Anstieg folgt, dann bereite ich in der ersten Schutzhütte hinter dem Ort mein Nachtlager. Die Hütte ist noch recht neu. Ich packe sie gedanklich in die Kategorie „Drei Sterne“.

Trail durch das Fichtelgebirge
# Trail durch das Fichtelgebirge

Flowträume im Erzgebirge

Der Übergang ins Erzgebirge ist fließend. Die Route folgt fast stetig dem Kammweg sowie der tschechischen Grenze und ist im weiteren Verlauf wieder häufig sehr schnell – perfekt für mein Starrbike. Federgabel? Pah! Der 1215 Meter hohe Fichtelberg ist eine wichtige Marke auf der „Trans Germany“, ist er doch die höchste Erhebung der Route und markiert zugleich etwa die Hälfte der Strecke. Der relativ langweilige Fichtelberg ist für mich lediglich ein Höhepunkt im topographischen Sinne, emotional dagegen ist es die liebliche Umgebung von Reitzenhain samt des 890 Meter hohen Hirtsteins. Mit der Baude, dem genialen Trail entlang des “Grünen Grabens” aus dem 17. Jahrhundert, dem einsamen Lehmheider Teich mitten im Wald, wo ich ein erfrischendes Bad nehme, und einem weiteren langen Flowtrail ist diese Gegend ein wahrer Bikertraum. Trotz des hohen Tempos, das ich nach wie vor zu halten versuche, genieße ich diesen Abschnitt in vollen Zügen. Gegen 18 Uhr spendiert der Bikeshop in Olbernhau meinem knackenden linken Pedal noch eine neue Fettpackung. Ergebnis: Eine halbe Stunde Ruhe, dann wird es schlimmer. Abends dann bei Holzhau eine Ernüchterung: Alles geschlossen, also wieder eine Hüttenübernachtung! Die Nacht ist etwas frisch, aber ich schlafe gut. Der Hütte direkt an der Grenze gebe ich 2 Sterne.

Sommermorgen im Erzgebirge
# Sommermorgen im Erzgebirge
Trail am Grünen Graben
# Trail am Grünen Graben
Über die Höhen des Osterzgebirges
# Über die Höhen des Osterzgebirges

Abstecher nach Tschechien

Tag 5, es wird ruppig. Der längste Tschechien-Abschnitt dauert einige Stunden und ist wahrlich einsam. Wie gern hätte ich jetzt eine Federgabel… Frühstück gibt es nur an der Tanke. Gegen Mittag bin ich in Tisa und plötzlich wieder von Touristen umgeben. Aha, hier gibt es eine „Felsenstadt“: Das Elbsandsteingebirge ist erreicht. Ich möchte etwas einkaufen, aber der Laden akzeptiert keinen Euro. Verwundert begebe ich mich in eine gemütliche Touri-Gaststätte gleich nebenan. Die Schupfnudeln mit Sauerkraut sind köstlich, aber die Wartezeit ist lang. Ich habe heute noch keinen Blick auf die Trackleaders-Page werfen können. Sitzt mir Adalbert schon im Nacken? Nach einer Stunde komme ich endlich weiter und erklimme über eine vielleicht zehn Meter lange Leiter bald den Checkpoint 3, den Katzstein bei Cunnersdorf. Schnell ein Selfie für die BTG-Facebookgruppe, dann hinabrollen nach Bad Schandau. Endlich: Eine schnelle Abkühlung in der Elbe. Im Discounter nebenan stocke ich meine Vorräte an Batterien und Zuckerwasser auf. Das herrliche Sebnitztal führt noch einmal nach oben, in die Oberlausitz.

Der letzte Berg der Oberlausitz
# Der letzte Berg der Oberlausitz

Es ist einer der letzten Anstiege und noch am selben Abend werde ich im Flachland sein. Inzwischen liegen fast 1000 Kilometer im Mittelgebirge hinter mir. Über ein einsames Polizeiauto mitten im Feld wundere ich mich und glaube, im nächsten Dorf bereits sorbisch, die Sprache einer Lausitzer Minderheit, zu lesen. Erst beim Anblick einer Gaststätte, die so gar nicht deutsch aussieht, dämmert es mir: Ein letztes Mal führt die Tour durch Tschechien, ohne dass ich jedoch die Grenze bemerkt hätte. Eine freundliche Oma verkauft mir in ihrer Gaststätte ein Eis und isst selbst gleich eines mit. Dabei erzählt sie mir in gutem Deutsch aus ihrem Ort und ihrem Leben. Solche herzlichen Begebenheiten bleiben hängen, auch sie prägen den Charakter einer so langen Tour. Die alte Dame beschreibt mir noch ausführlich den Weg nach Sohland. Ich weiß, ich weiß, denke ich, ich habe doch GPS! Aber die Höflichkeit verbietet es, sie zu unterbrechen. Ohnehin wäre ich gern noch etwas geblieben.

Trail Magic!

Kaum wieder in Deutschland, hat es mein Pedal dann endgültig hinter sich. Ich kann es einfach abziehen. Zum Glück empfehlen mir ein paar Anwohner einen Fahrräder reparierenden Rentner. Noch zwei Mal muss ich nach dem Weg fragen, dann habe ich Herrn Dehel gefunden. Er erwartet mich bereits mit einem Bärentatzenpedal in der Hand! Die Leute weiter oben haben mich per Telefon angekündigt. Zwei Euro will er, ich gebe ihm voll Dankbarkeit fünf. Denn ohne Ersatzpedal wäre Ende Gelände. Auf einem Friedhof fülle ich meine Trinkblase, dann beobachte ich auf den letzten Kilometern dieses Tages, wie allmählich Gewitterwolken aufziehen. Ich quartiere mich in einer günstigen Pilgerherberge in Gröditz ein, die ich komplett für mich allein habe. Das erste richtige Bett seit einer Woche ist mir ebenso willkommen wie das feste Dach über dem Kopf, denn draußen geht soeben der einzige Regenguss meiner Tour, begleitet von Blitz und Donner, nieder.

Sandpiste in der Reicherskreuzer Heide Bildgröße ändern
# Sandpiste in der Reicherskreuzer Heide Bildgröße ändern

Achtung! Wolf(sverwandte), Stahlsaurier und anderes Getier!

Am Samstagmorgen läuft es perfekt. Mit über 30 km/h und Rückenwind rolle ich auf Schotter und perfekten Radwegen Brandenburg entgegen. Gerade denke ich darüber nach, wie gern ich einen der hier wieder vorkommenden Wölfe sichten würde, da springt mir kurz hinter Nochten ein Hund laut kläffend direkt vors Rad – Vollbremsung! Zum Dank beißt er mich kräftig in die linke Wade. Das Blut läuft bis in den Schuh. Aus meinem Seat Pack schäle ich Jahre altes Verbandszeug. Wenigstens kann ich das jetzt mal aufbrauchen. Ich lasse mir von der perplexen Besitzerin noch die Personalien geben, dann muss ich weiter. In Bad Muskau finde ich zum Glück sofort einen Bereitschaftsarzt, der die Wunde fachmännisch untersucht. Er belässt es bei einem frischen Pflaster, doch das ist schon kurz hinter dem Ort wieder durch. In der Praxis hatte ich jedoch zum Glück um weitere Pflaster und einen Verband gebeten. Der wird nun kurzerhand an der Bremsscheibe halbiert und dann die stark nachblutende Wunde neu verbunden. Der Verband hält bis zum übernächsten Abend, danach reicht ein großes Pflaster. Glücklicherweise waren Täter und Opfer geimpft. Wieder bin ich knapp daran vorbeigeschrammt, aufgeben zu müssen.

Brandenburg
# Brandenburg

Die polnische Grenze empfängt mich mit starkem Seiten- und Gegenwind, aber ein langes Asphaltstück auf dem Neißeradweg und die offene Landschaft sind mir jetzt sehr willkommen. Immer wieder überhole ich, im Aero-Aufsatz liegend, auf dem Deich schwer bepackte und hart gegen den Wind kämpfende Reiseradler. Insgeheim genieße ich ihre verdutzten Gesichter. Checkpoint 4: Eine eigens errichtete Aussichtsterrasse lässt den Blick über ein schier unendlich erscheinendes Tagebauloch schweifen. Am gegenüberliegenden Ende, in vielleicht zehn Kilometern Entfernung, spuckt das Braunkohlenkraftwerk Jänschwalde wie eine Wolkenmaschine gewaltige Dampfmengen in die Luft. Aus dem gigantischen Loch dringen derweil Geräusche eines Stahlsauriers, der sich durch das Erdreich frisst, nach oben. Unwirklich, faszinierend, schauderhaft. Doch es bleibt wenig Zeit zum Sinnieren, die Rennuhr tickt! In Grabkow bekomme ich ein gutbürgerliches Mittagessen, bevor ich mich für die nächsten 1,5 Tage mit den verwurzelten Kiefernforsten Brandenburgs anzufreunden versuche. Leider vergeblich. Die Monotonie der Holzplantagen ist wirklich nicht mein Ding.

Der Truppenübungsplatz Reicherskreuz in praller Sonne ist fordernd, aber die Heidelandschaft hat etwas. Vor allem Sand. Und schnurgerade Wege. Einzige Abwechslung: Ein 90-Grad-Knick des Tracks nach fast acht Kilometern, bevor er auch auf den nächsten fünf Kilometern wieder kein Grad nach links oder rechts schwenkt. Trockene Einöde aus Kiefern, Kiefernzapfen, uraltem Kopfsteinpflaster, Sand und Wurzeln. Oh, diese Wurzeln! Jetzt sehne ich mich nach dem Komfort einer Federgabel. Ein Schweden-Eisbecher in Neubrück baut mich auf. Den älteren Herrschaften am Nachbartisch muss ich von meiner Tour berichten. Später, in Fürstenwalde, verstecke ich das Bike beim Einkauf hinter dem Supermarkt. Vor dem Eingang tummeln sich wenig Vertrauen erweckende Gestalten. Ich bin froh, die Stadt auf dem „66-Seen-Weg“ entlang der Spree schnell wieder zu verlassen. Doch anhalten ist nicht: Sofort machen sich besonders große und aggressive Mücken über mich her. Für die Nacht rechne ich bereits mit dem Schlimmsten. Komischerweise habe ich aber in einer völlig offenen 1-Sterne-“Hütte” unweit der A 10 bei Erkner meine Ruhe vor den Viechern. In der Dämmerung war ich zuvor noch mitten durch eine in alle möglichen Richtungen auseinander stiebende Wildschweinrotte gefahren. Mit den Gedanken an diese weitere faszinierende Erfahrung und die vielen interessanten Beobachtungen zuvor, zum Beispiel von Schwarz- und Grünspechten, Kranichen, Störchen, majestätischen Greifvögeln und einer Schlange, schaltet mein Kopf ab.

Wilde Allee nahe Beeskow
# Wilde Allee nahe Beeskow
Sonnenaufgang an der Spree bei Mönchwinkel
# Sonnenaufgang an der Spree bei Mönchwinkel

Es wird geschichtsträchtig

Mit dem nächsten Abschnitt bis Fürstenberg haben vor allem meine Handgelenke ihre Schwierigkeiten: Wurzeltrail auf Wurzeltrail. Die Route folgt überwiegend den Ufern diverser Seen. In Niederfinow staune ich nicht nur über das gewaltige Schiffshebewerk, sondern auch über etliche Wurstbuden, alle direkt nebeneinander und mit dem gleichen ernüchternden Angebot. Ich weiche aus: Milchreis. Der Verkäufer, ein echter Sympath, lacht und wieder darf ich ein paar Anekdoten von meiner „Trans Germany“ zum Besten geben. Dann wird es militärisch: In der Kleinen Schorfheide weicht der Sand plötzlich einer großen Betonfläche. Etwa eine Rollbahn? Und tatsächlich, überall stehen verlassene Bunker, in welchen früher sowjetische Bomber für den Ernstfall bereitgehalten wurden. Der Flugplatz Templin/Groß-Dölln war nicht nur irgendein Militärflugplatz, wie ich später nachlesen werde, sondern der größte in der DDR. Jetzt, da wir einem neuen Kalten Krieg entgegentaumeln, erscheint mir die Kulisse umso düsterer. Nach einem Moment des Erschauerns wirft mich der Tiefsand aus meinen Gedanken. Das Vorderrad will einfach die Spur nicht halten.

Klarer Vorteil sicherlich für die noch folgenden Fahrer Falk und Steffen mit ihren 29+ Bikes. 29+ ist bei mir im Moment eher die Temperatur. Von oben brennt die Nachmittagssonne – seit langem lege ich mal wieder Sonnenschutz auf – und ein weiterer ehemaliger Truppenübungsplatz offenbart seine Weite. Sand, soweit das Auge reicht erst nach sieben Kilometern ist der Kampf gewonnen. Himmelpfort erscheint mir wie eine Oase: Ein großer See, ein Eis-Café, Restaurants. Auftanken! Und noch einmal düstere Geschichte – die Gedenkstätte Ravensbrück, jenes frühere Frauen-KZ der Nazis, ist viel größer als erwartet. Dann bin ich endlich in Mecklenburg. Ein Blick auf meine vom Sand verstaubten Waden, links klebt immer noch Blut vom Vortag, zeigt, dass ein Bad dringend angeraten scheint. Tagsüber waren die vielen Seen schon verlockend, aber am Abend ist eine Badestelle hinter Kratzeburg einfach perfekt. Danke an den Scout für diesen herrlichen POI! Genächtigt wird in Kittendorf auf einem Spielplatz. Der ist von der Durchgangsstraße etwas entfernt, außerdem leisten zwei Störche sowie etliche Katzen Gesellschaft.

Tiefer Sand in Mecklenburg
# Tiefer Sand in Mecklenburg

Das Finale

Am nächsten Morgen soll nach rund 30 Kilometern eine Fähre über die Peene folgen. Diese fährt erst ab 10 Uhr, also bleibt genug Zeit für ein gemütliches Frühstück in Stavenhagen. Sicher, man kann die Fähre umgehen, doch der Umweg über Demmin würde auch 1,5 Stunden zusätzlich bedeuten. Also lasse ich mir einfach mal etwas Zeit. Wie erhebend, hinter einer Anhöhe plötzlich den großen Kummerower See zu erblicken!

Am Kummerower See
# Am Kummerower See

Das letzte Stück entlang des Sees bis zum Übersetzen in Aalbude zieht sich etwas. Mit mehreren aufeinanderfolgenden steilen Schiebepassagen habe ich so weit nördlich nicht gerechnet. Um 9.30 Uhr stehe ich schließlich an der Peene. Nachdem mich der Fährmann schon ein paar Minuten früher ans andere Ufer bringt, lege ich mich für den Endspurt ins Zeug. Auf Nebenstraßen drehen sich die Kurbeln dank neuerlichen Rückenwinds schnell und leicht. Ich will endlich das Meer sehen! Zweieinhalb Stunden sind es noch bis Stralsund.

Bushwhacking kurz vor Stralsund
# Bushwhacking kurz vor Stralsund
Olafs Fargo auf der Wittower Fähre
# Olafs Fargo auf der Wittower Fähre

Doch unser Track berührt die Stadt nur am Rande, dann überquert er das Wasser des Strelasunds. Auf der Insel Rügen angekommen, wird das Bild, welches ich acht Tage lang vor meinem geistigen Auge hatte, schließlich Realität. Am Kubitzer Bodden habe ich das Meer in der Nase, spüre den typischen Küstenwind, werde begleitet von kreischenden Möwen – ein weiteres fantastisches Stück der Route und das sich fest ins Gedächtnis einbrennende Finale. Die letzten paar hundert Meter vor dem Kap sind „aufgrund von Bauarbeiten“, die sich lediglich als ein abgestellter Bagger entpuppen, gesperrt. Besagter Bagger ist mir herzlich egal, ich brettere durch, freue mich wie ein Kind, dass ich den kurzen Trail an der Steilküste für mich allein habe, blicke nach links hinaus auf die Ostsee, dann wieder auf Touristen mit Fotoapparaten und Ferngläsern, sehe das Ende des Tracks auf dem Navi, werde nervös, werde euphorisch – und stehe vor den Leuchttürmen von Kap Arkona! Der Moment fühlt sich episch an. Ich habe es wirklich geschafft, zwei Tage früher als gedacht bin ich am Ziel! Platz 2! Unfassbar, ich bin hochzufrieden. Dass da noch mehr geht, hatte Reto mit seinem Wahnsinnsritt längst bewiesen. Er erreichte das Kap Arkona bereits nach sechseinhalb Tagen und war inzwischen schon wieder zu Hause…

Die letzten Kilometer auf Rügen
# Die letzten Kilometer auf Rügen

Nach ein paar Minuten und dem obligatorischen Zielfoto, für das ich einer Touristin mein Smartphone in die Hand drücke, löst sich die Anspannung. Mir ist nach einem riesigen Eisbecher, doch der ist hier irgendwie nicht zu bekommen. Na gut, dann eben die Stiel-Variante. Als ob mich so eine Kleinigkeit jetzt noch jucken würde.

Eintreffen des Peletons am Kap Arkona
# Eintreffen des Peletons am Kap Arkona
Text: Olaf Haensch 
(leicht gekürzt und redaktionell bearbeitet von Fabian Baum) | Fotos: Achim Walther, Olaf Haensch & Falk Diefenbach

Viewing all articles
Browse latest Browse all 5195


<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>