Vor kurzem wurde das brandneue Specialized Enduro 2017 der Weltöffentlichkeit präsentiert – klar, dass das EWS-Team des Herstellers aus dem kalifornischen Morgan Hill fortan auch auf dem neuen Enduro-Flaggschiff unterwegs ist. Wir haben uns beim Enduro World Series-Rennen im kanadischen Whistler das Arbeitsgerät von Jared Graves genau angeschaut.
Der Australier bedarf eigentlich keiner näheren Vorstellung: Jared Graves hat sich nicht nur als wohl bester Fourcrosser aller Zeiten in die Geschichtsbücher des Mountainbike-Sports eingetragen, sondern darüber hinaus seine Landesflagge bei zwei Olympiaden in der Disziplin BMX Race repräsentiert, bei der Downhill-Weltmeisterschaft 2013 im südafrikanischen Pietermaritzburg Bronze geholt und sich den EWS-Gesamtsieg 2014 sichern können. Nach über zehn Jahren auf Yeti Cycles fährt das 33-jährige Multitalent seit diesem Jahr für Specialized in der Enduro World Series. Auch wenn sein Start im neuen Team etwas holprig verlaufen ist: Jared Graves ist nach wie vor einer der besten Mountainbiker des Planeten.
Rahmen und Geometrie
Kurz vor dem fünften Stopp der EWS in Whistler hat Specialized das brandneue Enduro präsentiert, das wir euch bereits in diesem Artikel ausführlich vorgestellt haben. Das neue Specialized Enduro ist entweder als reine 650b-Variante oder als 29er, der auch mit 650b Plus-Reifen – von Specialized als 6fattie bezeichnet – kompatibel ist. Die Veränderungen im Vergleich zum beliebten Vorgänger fallen vergleichsweise gering aus. Das neue Specialized Enduro ist eher eine Evolution als eine Revolution. Das 2017 Specialized Enduro hat im Vergleich zum Vorgänger etwas mehr Federweg am Heck, ist nun rund um eine Federgabel mit 170 mm Federweg ausgelegt und der Reach ist etwas in die Länge gewachsen, ohne sich zu sehr vom Vorgänger zu unterscheiden. Außerdem kommt das neue Enduro nun mit dem beliebten SWAT-System, dank dessen sich essentielle Ersatzteile und Werkzeuge direkt im Rahmen verstauen lassen. Mit einer Körpergröße von 1,78 m fährt Jared Graves das neue Specialized Enduro in Größe L. Der Lenkwinkel liegt bei 65,5°, der Reach beträgt 450 mm und die Kettenstreben sind 425 mm kurz.
Anders als sein Teamkollege Curtis Keene, der in Whistler auf dem 29er Specialized Enduro an den Start gegangen ist, hat sich Jared für die extrem lange und anspruchsvolle Strecke in Kanada für die 650b-Variante entschieden. “Whistler ist bekannt dafür, dass einige der Stages recht eng und technisch sind. Agilität ist hier für mich wichtiger als die zusätzliche Laufruhe, die mir die größeren Laufräder bieten würde. Deshalb greife ich hier zum 650b-Enduro”, begründet Jared seine Wahl. Außerdem hat Jared frisch vor dem Rennen brandneue Reifen von seinem Hauptsponsor Specialized erhalten, die er unbedingt testen wollte und deshalb zwangsläufig die 650b-Version fahren musste – doch dazu später mehr.
“Im Vergleich zum Vorgänger ist das neue Enduro schlichtweg in allen Belangen etwas besser. Das beste Wort, um die neue Version zu beschreiben, ist ‘Refinement’. Der Hinterbau arbeitet besser bei kleinen Schlägen, außerdem pedaliert es sich etwas effizienter. Dadurch, dass der Hinterbau nun aus Carbon ist, wurde auch die Steifigkeit erhöht”, zeigt sich Jared angetan vom neuen Enduro. “Die Geometrie ist relativ unverändert. Das neue Modell ist nun auf eine Federgabel mit 170 mm Federweg ausgelegt. Die Kettenstreben sind etwas länger geworden, das Tretlager um etwa 10 mm nach unten gewandert. Außerdem hat das neue Enduro nun die SWAT-Box integriert – dadurch kann ich die Ersatzteile, die ich beim Rennen benötige, direkt im Rahmen verstauen, statt sie am Körper rumzutragen oder umständlich irgendwo am Rahmen zu befestigen. Die wenigen Veränderungen, die ich mir am alten Rahmen gewünscht habe, wurden alle komplett umgesetzt – das neue Rad ist der Hammer!”
Das neue Specialized Enduro befand sich übrigens schon seit mehreren Jahren in der Entwicklung – in diesen Prozess war Jared Graves nahezu gar nicht involviert. Als er im November des vergangenen Jahres erstmals bei Specialized in Morgan Hill zu Besuch war, wurde er vor vollendete Tatsachen gestellt. Laut seiner Aussage waren zum Zeitpunkt seines Wechsels von Yeti zu Specialized bereits die Formen für den neuen Carbonrahmen produziert. “Das Team bei Specialized hat schon seit einigen Jahren an den Modellen gearbeitet. Ich war mir sicher, dass das neue Modell super wird. Klar war ich gespannt, wie die Veränderungen aussehen würden. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass Specialized schon immer hervorragende Räder entwickelt hat und das 2017 Enduro keine Ausnahme machen würde!”
Fahrwerk und Setup
Sofort ins Auge sticht die Tatsache, dass Jared Graves bei seinem neuen Specialized Enduro am Heck auf einen RockShox Vivid-Stahlfederdämpfer setzt. Wenngleich einige andere Fahrer bei der EWS in Whistler auf Luftdämpfern unterwegs waren, klingt die Begründung seiner Wahl durchaus plausibel: “Die Strecken hier sind nicht nur ziemlich ruppig, sondern auch teilweise extrem lang. Ein Stahlfederdämpfer steckt diese langen Abfahrten einfach besser weg. Außerdem war ich schon immer ein großer Fan von Stahlfederdämpfern. Das ist aber auch ein Stück weit persönliche Präferenz. Für andere Fahrer oder in anderem Gelände hat ein Luftdämpfer definitiv auch seine Daseinsberechtigung!” Vorne setzt Jared in seinem Specialized Enduro auf eine RockShox Lyrik mit 170 mm Federweg. Um die Steifigkeit an der Front zu erhöhen, verwendet das Specialized-Team außerdem spezielle Torque Caps, die durch eine vergrößerte Oberfläche die Verbindung zwischen Vorderradnabe und Gabel-Dropout verstärkt.
“In meiner Lyrik fahre ich hier einen Luftdruck von 94 psi und 3 Tokens. Hinten hab ich aktuell eine 500 lbs-Feder verbaut. Druck- und Zugstufe? Ehrlich gesagt: Keine Ahnung. Ich war noch nie jemand, der penibel alle Details notiert hat. Die Jungs von RockShox-Race Support wissen darüber natürlich genau Bescheid. Aber ich mache keine allzu große Wissenschaft aus meinem Setup”, zeigt sich Jared erstaunlich offen, was das Fahrwerk seines Specialized Enduros angeht. “Wenn ich merke, dass etwas nicht passt, verstelle ich Zug- und Druckstufe um ein oder zwei Klicks – bis es sich so anfühlt, wie ich es will. Als Fahrer muss ich mir Gedanken darüber machen, wie sich das Fahrrad auf den Trails verhält. Wenn es sich nicht richtig anfühlt, fühlt es sich eben nicht richtig an. Dann musst du das eben ändern – und dich nicht an einer bestimmten Nummer, die in deinem Kopf steckt, festklammern.” Die langjährige Erfahrung, die Jared mittlerweile gesammelt hat, hilft bei diesem Ansatz sicherlich enorm. Veränderungen zwischen einzelnen Etappen macht Jared im Prinzip nie. Viel wichtiger sei es für ihn, bei jedem Rennen möglichst frühzeitig ein Setup zu finden, das auf allen Etappen gut funktioniert. Früher war Jared dafür bekannt, ein extrem steifes und progressives Heck zu bevorzugen – hier merkt man deutlich, wie oft der Australier auf dem BMX unterwegs ist. Mittlerweile ist das Setup zwar immer noch sehr progressiv und vergleichsweise straff, allerdings keineswegs “unfahrbar”, wie man es vom ein oder anderen Pro-Bike kennt.
Laufräder und Reifen
Eines der interessantesten Details am Specialized Enduro von Jared Graves war neben dem brandneuen Rahmen mit Sicherheit auch die Reifenwahl. Die hauseigenen Specialized-Pneus waren nicht nur mit einem roten S-Works-Schriftzug verziert, sondern auch merklich breiter, als viele der anderen Reifen, die man üblicherweise in der EWS sieht. Auch aufgrund der brandneuen Prototyp-Reifen hat sich Jared für das Rennen in Whistler für die 650b-Variante des Specialized Enduros entschieden. Die Logik dahinter: Kleinere Laufräder und Reifen seien insgesamt leichter – deswegen könne man durchaus zu etwas schwereren Reifen greifen, um den Pannenschutz zu erhöhen, ohne das Gewicht allzu sehr in die Höhe zu treiben. Deshalb setzte Jared in Whistler auf 2,6 ” breite Reifen mit besonders stabilem Grid-Casing, die jeweils etwa 1000 Gramm auf die Waage brachten.
Vorneweg: In der Praxis ging dieses Experiment gehörig in die Hose. Zwei Platten auf den ersten beiden Stages waren mit Sicherheit nicht das, was sich Jared oder Specialized bei der Weltpremiere der neuen Bikes und Reifen vorgestellt haben. Fairerweise muss man dazu sagen, dass die Strecken in Whistler extrem lang sind und zahlreiche scharfe Steine der Luft in den Reifen das Leben schwer machen. Auch viele andere Fahrerinnen und Fahrer hatten hier Probleme mit platten Reifen. Nichtsdestotrotz ist der Ansatz von Jared sehr interessant und möglicherweise auch ein Hinweis auf eine Entwicklung, die zwar schon längst begonnen hat, aber jetzt erst langsam den Einzug in den Rennsport findet.
Die Kombination aus einem 2,6 ” breiten Reifen und Specialized Roval-Carbonfelgen mit einer Innenbreite von 30 mm sorgen für ein sehr breites Reifenprofil, das irgendwo zwischen einem “herkömmlichen” (Enduro-)Reifen und einem Plus-Reifen liegt. “Ich war schon immer ein riesiger Fan von sehr breiten Reifen – auch das ist wieder ein Stück weit persönliche Präferenz. Plus-Reifen funktionieren im Rennsport einfach nicht: Die Pannensicherheit ist zu gering und das Fahrgefühl ist zu undefiniert, wenn man solche Geschwindigkeiten fährt wie wir. Generell bieten aber breitere Reifen einige Vorteile, die schmale Reifen einfach nicht bieten. Das Gegenteil ist natürlich auch der Fall: Auf dem richtigen Untergrund können sich schmale Reifen super anfühlen, wenn man spürt, dass sich die Seitenstollen richtig in den Boden eingraben”, erklärt Jared. Fest steht: Es wird spannend sein zu sehen, bei welchen Strecken und Bedingungen die Teams zukünftig auf welche Reifenbreite zurückgreifen werden.
Bei den Laufrädern setzt Jared Graves auf hauseigene Specialized Roval-Carbonfelgen mit einer Innenbreite von 30 mm. Diese würden eine sehr hohe Steifigkeit bieten und Jared jederzeit viel Feedback vom Untergrund vermitteln. Im Inneren der Reifen kommt ein reguläres Tubeless-Setup zum Einsatz. Zum Luftdruck in den Reifen konnte und wollte das Team keine Angaben machen, zumal man aktuell selbst erst in der Testphase der Reifen sei und man das ideale Setup schlichtweg noch nicht gefunden habe.
Komponentencheck
An der Front des Specialized Enduros von Jared Graves kommt ein Cockpit aus dem Hause Renthal zum Einsatz: Der 750 mm breite Renthal Carbon-Fatbar mit 35 mm-Durchmesser wird von einem 50 mm kurzen Renthal-Vorbau geklemmt. Jared ist generell kein allzu großer Fan von extrem breiten Lenkern. “Lange Zeit bin ich eine Lenkerbreite von 740 mm gefahren. Jetzt werden die Strecken insgesamt schneller und ruppiger – 750 mm funktioniert für mich gut. Von allzu extremen Lenkerbreiten halte ich persönlich aber nicht so viel.” Extrem viel Wert legt Jared auf den Hebel seiner SRAM Guide Ultimate-Bremse. Der Hebel ist nicht nur recht weit innen geklemmt, sondern auch extrem nah am Lenker. Zieht man die Bremse mit voller Kraft, bohrt sich der Bremshebel fast schon in den mit Edding unkenntlich gemachten Griff. “Wenn ich in eine richtig harte Sektion fahre, kann ich mich sozusagen mit allen Fingern an der Bremse festhalten und habe trotzdem das Gefühl, den Lenker fest zu umschließen. Mein Teamkollege Curtis hingegen fährt ein komplett anderes Setup – bei ihm greift die Bremse, sobald er den Hebel leicht berührt. Ich mag das genaue Gegenteil. Von allen Dingen lege ich darauf am meisten Wert.” Auch in Anbetracht der extremen Streckenlängen bei der EWS in Whistler macht die Wahl von 203 mm großen Bremsscheiben vorne und hinten durchaus Sinn.
Der Antrieb von Jareds Specialized Enduro hatte in Whistler keine besonderen Überraschungen zu bieten. Wie viele andere Fahrer setzt Jared auf ein SRAM Eagle-Setup. Die Bandbreite der Kassette, die vom 10T kleinen Ritzel bis zum 50T großen Ritzel satte 500 % beträgt, bedeutet in der Praxis für Enduro-Rennfahrer, dass diese ein größeres Kettenblatt fahren können und bergauf trotzdem dieselben Reserven haben. Auch deshalb greift Jared wie viele seiner Kollegen mittlerweile zu einem 36T-Kettenblatt an der SRAM X0-Carbonkurbel. Ein Power Meter, das man in der Vergangenheit häufiger an seinen Bikes gesehen hat, sucht man an Jareds Whistler-Enduro vergeblich – zu viele der Anstiege werden mit dem Lift bewältigt, sodass eine genaue Rückmeldung über die verwendete Kraft bei den Bergauf-Passagen überflüssig erscheint. Damit Kette und Kettenblatt optimal geschützt sind, kommt eine MRP SXg-Kettenführung mit Carbon-Backplate und Taco zum Einsatz. Und auch wenn Jared Graves das Enduro World Series-Rennen im kanadischen Whistler nicht ohne Defekt überstand kann man sich sicher sein: Den Australier und dessen knalliges 2017 Specialized Enduro wird man noch das ein oder andere Mal ganz vorne sehen!
Weitere Informationen
Website: www.facebook.com/jaredgravesmtb
Text & Redaktion: Moritz Zimmermann | MTB-News.de 2016
Bilder: Moritz Zimmermann
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